Literaturbericht
Ludwig Heuwinkel
Zeitknappheit und Zeitstrukturen in der Beschleunigungsgesellschaft (S. 5-37)
Alles hat seine Zeit, wusste (noch) ein Autor des Alten Testamentes. Inzwischen wissen wir aus sozialwissenschaftlicher wie sozialphilosophischer Perspektive um Zusammenhänge zwischen Gesellschaftsverfassung und Zeitverfassung. Ludwig Heuwinkel stellt in seinem Literaturbericht (wie schon in früheren Ausgaben der SLR) eine Vielzahl neuer Studien und Beiträge zur Zeit-Diskussion vor, die er dieses Mal gesellschaftsanalytisch orientiert unter dem Titel »Zeitknappheit und Zeitstrukturen in der Beschleunigungsgesellschaft« bündelt. Deutlich wird, wie unter dem Regime des Neoliberalismus mithilfe von Deregulierung und Flexibilisierung eine kapitalistische Formbestimmung von Zeit nicht allein für den Produktionsbereich, sondern auch für Familienleben, Bildungs- und Erziehungsprozesse, ›freie‹ Zeit durchzusetzen gesucht wird. Die Folge sind dann eben Zeitknappheit und Zeitbeschleunigung in einer Zeit, die – mit Marx gesprochen – immer mehr »disposable time« ermöglichte und damit die Lebensqualität durch Zeitsouveränität erhöhen könnte.
Rezensionsaufsätze
Peter Dudek
Keine Eindeutigkeiten. Ambivalente Befunde zur historischen Reformpädagogik in Deutschland (S. 38-42)
›Die‹ Reformpädagogik ist in den letzten Jahren stark ins Gerede gekommen. Vor diesem Hintergrund kann das großformatige »Handbuch der Reformpädagogik in Deutschland« (1890-1933) berechtigterweise ein sehr großes Interesse beanspruchen. Peter Dudek stellt Konzeption und Erträge dieses Unternehmens vor und macht deutlich, dass und wie es in Ansatz und Ergebnissen in bisherige Diskurse einzuordnen ist. Dabei ist es ihm wichtig herauszustellen, dass auch auf dem mit diesem Handbuch erreichten Niveau der Debatte vor allem zur Kenntnis zu nehmen ist, dass es keine Eindeutigkeiten bei den Positionen und Haltungen, sondern ambivalente Befunde gibt, die in ihren Polaritäten historisch geworden und auszuhalten sind.
Timm Kunstreich
Kinderheim Baumgarten (S. 43-47)
Einer der berühmtesten »reformpädagogischen« Versuche zu Beginn des 20. Jahrhunderts liegt für den deutschsprachigen Raum mit S. Bernfelds »Kinderheim Baumgarten« vor. Timm Kunstreich rekonstruiert Leitmotive und wesentliche Argumentationsfiguren einer – nun endlich – vorliegenden Analyse dieses Experiments zu »neuer Erziehung «. Deutlich zeigt sich die gesellschaftliche und politische Eingebundenheit dessen, was Bernfeld in der Zusammenarbeit mit den Kindern versucht hat, um die Grenzen von bürgerlicher ›Erziehungsarbeit‹ zu überwinden.
Volker van der Locht
Heimerziehung nach 1945 (S. 48-56)
Im Vergleich zu Bernfelds Ansatz, der eine Stärkung der Kinder als handelnde, kompetente Subjekte anstrebt, werden die »dunklen« Seiten der Pädagogik noch dunkler, da sie erkennbar machen, dass und welche Alternativen es in Theorie und Praxis gab und gibt. Vor allem Berichte über unterschiedliche Gewaltformen in der Heimerziehung sind es, die als besonders skandalös erfahren werden. Volker van der Locht diskutiert kritisch Ergebnisse von Studien, die der Aufarbeitung der Heimerziehung nach 1945 gelten.
Christian Bergmann
Kinder- und Jugendhilfe im gesellschaftlichen Wandel (S. 57-62)
Eine Einordnung dieser und vieler weiterer Debatten um Kinder- und Jugendhilfe wird ertragreich, wenn man die inzwischen 7. Auflage des von Dieter Kreft und Ingrid Mielenz herausgegebenen »Wörterbuch Soziale Arbeit« heranzieht. Christian Bergmann leistet hierzu wesentliche Vorarbeiten, wenn er dieses 33 Jahre alte Unternehmen differenziert vorstellt. Dabei wird zugleich einsichtig, dass dieses »Wörterbuch« Zeugnis ablegt von der Expansion disziplinärer Theoriebildung wie professioneller Praxis in der Sozialen Arbeit insgesamt – was auch Fragen zu ihrem fachpolitischem Verständnis und gesellschaftspolitischer Positionierung im Kontext sozialpolitischer Entwicklungen dieser Jahrzehnte aufwirft.
Heiko Geiling
Empirisch arbeiten mit Bourdieu (S. 63-67)
Auf eine grundlagentheoretische Diskussion von Gesellschaftsanalyse heute ausgerichtet ist die Debatte um Bourdieu in Deutschland. Heiko Geiling verweist anhand des Bandes »Empirisch arbeiten mit Bourdieu« auf Entwicklungslinien von sozialwissenschaftlicher Methodologie und Methodik hierzulande, die an Bourdieus eigene Arbeiten anschließen und die Fruchtbarkeit seines Ansatzes demonstrieren. Deutlich wird zudem, dass man mit Bourdieu über Bourdieu hinausgehen kann.
Volker Harms
Die Ethnologie in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1945 und 1990: Zur Zeitgeschichte eines Faches zwischen Sozial- und Kulturwissenschaften (S. 68-81)
In einem großformatigen Text stellt Volker Harms eine relevante Studie zur Geschichte der Ethnologie in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1945 und 1990 vor. Deutlich werden hierbei politische Rahmenbedingungen, die ihren Ausgang mit der nationalsozialistischen Epoche, deren Wirkungen – entscheidenderweise durch Personen – auf das Fach, nehmen und lange formierend wirken. Dementsprechend stehen Fragen von Kontinuität(en) und Brüchen über viele Jahre im Vordergrund, ohne explizit thematisch zu werden. Erst Jahrzehnte später ändert sich dies – wie in vielen anderen Disziplinen.
Sammelbesprechung
Manfred Liebel
Kinder und Kindheiten heute – in Deutschland und anderswo (S. 82-90)
Mit »Kinder und Kindheiten heute« setzen wir in der SLR eine lange Tradition der Berichterstattung zu Kindheitsforschung und Forschungen zum Kinderleben fort. Manfred Liebel nimmt einige neuere Publikationen zum Anlass, in grundsätzlicher Weise Fragen nach »guter Kindheit« national wie international zu diskutieren. Perspektivisch ist es ihm darum zu tun, Gemeinsamkeiten und Differenzen in den Kindheiten weltweit herauszuarbeiten, zu klären, worin »Qualität« oder »Wohlbefinden« von Kindern in ihrem Leben und Erleben – auch in Bezug auf Zufriedenheit und soziale Gerechtigkeit – bestehen (können).
Essays
Michael Winkler
Bemerkungen zum 14. Kinder- und Jugendbericht (S. 91-106)
Mit den Lebensrealitäten von Kindern und Jugendlichen in der Bundesrepublik ist seit Jahrzehnten der alle 4 Jahre produzierte Kinder- und Jugendbericht, verantwortet von einer Expertenkommission, befasst. Michael Winkler nimmt auf diese Tradition Bezug und vermerkt den differenten Umgang in Politik, Öffentlichkeit und Professionen mit diesen je besonderen Berichten, ihren Schwerpunktsetzungen. Dieser 14. Bericht ist als allgemeiner angelegt, sucht, Lebenslagen und Situationen von Kindern und Jugendlichen umfassend zu beschreiben. Im Vordergrund stehen dabei die Rezeption von Analysen zum Wandel von Kindheit und Jugend sowie die darin eingelassenen – neuen ? – Perspektiven auf Sozialisationsinstanzen. Eingehender diskutiert wird daher die Frage, ob und was es denn professionell wie politisch ausmache, wenn davon die Rede sei, Bildung, Betreuung und Erziehung seien im Zentrum der Gesellschaft angekommen. In den Blick gerät damit die Frage nach Verantwortung.
Steffen Großkopf
Ausbeutung für alle! Der marginalisierte Vater und die Maximierung der industriellen Reservearmee. Kulturtheoretische Betrachtungen (S. 107-122)
Voller Verve beschäftigt sich auch Steffen Großkopf mit der Debatte um Bildung, Betreuung und Erziehung – vor allem – in früher Kindheit. Seine (Er)Klärung der Gründe für wesentliche Veränderungen und Verschiebungen in kindlichen wie familialen Kontexten, die ihr Zentrum im Ausbau ›frühkindlicher Betreuung‹ haben, geht aus von einer geänderten Vaterrolle und neuen Bedingungen der Produktion der Ware Arbeitskraft. Damit wird aus dem, was sich auf den ersten Blick als ›kinderfreundlich‹ darstellt, ein ökonomisches Kalkül, dem zudem zugeschrieben wird, wesentlich an der Herstellung einer für den kapitalistischen Verwertungsprozess immer noch relevanten Reservearmee an Arbeitskräften beteiligt zu sein. Damit lässt sich dieser Text auch als Herausforderung für eine – neue – politische Ökonomie des Ausbildungssektors lesen.
Sebastian Müller-Rolli
Erziehungswissenschaft und Kommunikation (S. 123-130)
Der Wirklichkeit pädagogischer Aktionen als Kommunikation folgen die Überlegungen von Sebastian Müller-Rolli. Interessiert ist er damit an einer Gegenbewegung zu den zentrifugal wirkenden Differenzierungsprozessen in der Erziehungswissenschaft, denen er mit dem Kommunikationsbegriff – verknüpft mit der Rede von Kommunikationsmatrix mit ihren Kommunikationsebenen und –prozessen – etwas Vereinheitlichendes, damit für alle pädagogischen Prozesse Relevantes, entgegensetzen will. Abgezielt wird so auf die Möglichkeit, erziehungswissenschaftliche Teildisziplinen miteinander in Beziehung zu setzen und die Frage der Einheit der Erziehungswissenschaft erneut zu diskutieren.
Einzelbesprechungen
Benno Hafeneger
Beschimpfen, bloßstellen, erniedrigen. Beschämung in der Pädagogik. (Sven Werner) (S. 131-133)
Kirstin Bromberg/Walburga Hoff/Ingrid Miethe
Forschungstraditionen der Sozialen Arbeit. Materialien, Zugänge, Methoden. Rekonstruktive Forschung in der Sozialen Arbeit. (Klaus Kraimer) (S. 134-137)
Rieker Peter/Huber Sven/Schnitzler Anna/Brauchli Simone
Hilfe! Strafe! Reflexionen zu einem Spannungsverhältnis professionellen Handelns. (Carsten Schröder) (S. 137-139)
Stefan Creuzberger/Dierk Hoffmann
»Geistige Gefahr« und »Immunisierung der Gesellschaft«: Antikommunismus und politische Kultur in der frühen Bundesrepublik. (György Széll) (S. 140-142)
Autorinnen/Autoren (S. 143)