Literaturbericht
Ludwig Heuwinkel
Die Vielfalt von Zeitaspekten in Wissenschaft und Gesellschaft in aktuellen Neuerscheinungen (S. 5-43)
In einem großformatigen und grundlegenden Text stellt Ludwig Heuwinkel eine Vielzahl neuer Arbeiten vor, die sich einer Vielfalt von Zeitaspekten in Wissenschaft und Gesellschaft widmen. Dabei wird deutlich, dass und wie Zeit für Individuen wie Gesellschaften eine kaum zu überschätzende Bedeutung zukommt: Strukturelle Dimensionen korrespondieren mit persönlichem Erleben. Dementsprechend wird individuell der Umgang mit Zeit bestimmt durch die Antagonismen Zeit-Souveränität, Zeit-Wohlstand, Zeit-Kompetenz versus Zeit-Knappheit, Zeit-Druck, Zeit-Stress. Auf gesellschaftlicher Ebene bewegt sich die sozialwissenschaftliche Debatte seit geraumer Zeit (wie auch schon in vorhergehenden Texten vom Verf. in der SLR vorgestellt) auf einer Ebene, in der vor allem Grundlagen und Folgen permanenter Beschleunigungsprozesse diskutiert werden. Diese, häufig dem Versuch der Kapitalisierung aller gesellschaftlichen Verhältnisse geschuldeten Prozesse, sind wesentlich in ihren Konsequenzen für die Strukturierung von Produktionsprozessen zu rekonstruieren.
Rezensionsaufsätze
Heinz-Elmar Tenorth
Universität in der Gesellschaft – Design, Idee, Realität einer unentbehrlichen Institution (S. 44-50)
Die »Universität« wird nicht erst seit »Bologna « mit Bezug auf ihre Grundlegung und Aufgabe(n) diskutiert; seit der Einführung der Bologna-»Reformen« geschieht dies aber verstärkt. Heinz-Elmar Tenorth stellt eine USamerikanische Studie vor, die in vergleichender Perspektive die Frage nach dem Design, der Idee wie der Realität dieser Institution in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten erörtert. Historisch wie systematisch wird diskutiert, inwiefern die in der Studie vorgetragene These, gegenwärtig entspreche allein das Design der US-amerikanischen Universität der klassischen Idee von dieser Institution, zutreffend ist. Von daher gewinnen Argumente von Wilhelm von Humboldt an Bedeutung, die dieser bereits gegen Adam Smith und dessen Ökonomismus eingesetzt hat, um seine Universitätsidee zu präsentieren.
Joachim Weber
Dialektik des Gemeinwesens (S. 51-63)
Joachim Weber rekonstruiert wesentliche Argumentationsfiguren und Leitmotive einer Studie eines für die Soziale Arbeit wesentlichen Problems, ihren Beitrag als »Arbeit am Gemeinwesen«. Dabei wird der gesellschaftliche wie politische Anspruch Sozialer Arbeit deutlich, denn jeder Mensch ist Teil eines Gemeinwesens, von dessen Strukturen und Prinzipien betroffen. Vor dem Hintergrund einer dialektischen Gesellschaftstheorie, deren Ansprüche kritisch diskutiert werden, gilt es, insbesondere die Frage der Möglichkeit von Selbstregulation, also herrschaftskritisch, zu begründen.
Ulrich Steckmann
Nietzsche als Bildungstheoretiker gelesen (S. 64-71)
Der wissenschaftliche wie gesellschaftliche Umgang mit Friedrich Nietzsche hat sich seit geraumer Zeit wesentlich verändert, weil deutlich geworden ist, in welcher Weise – vor allem von seiner Schwester – Texte von ihm gefälscht wurden, so dass sie im Antisemitismus endeten. Vor diesem Hintergrund kann eine Studie, die von Nietzsche als Erzieher handelt, eine besondere Aufmerksamkeit erwarten. Ulrich Steckmann stellt den Band vor, verortet ihn und diskutiert kritisch Reichweite und Grenzen. Dabei wird deutlich, dass und wie der Philosophie Nietzsches eine pädagogische Bedeutung zugesprochen werden kann.
Manfred Kappeler
Probleme der Vermittlung von Kenntnissen über die Hitlerjugend an die Mädchen und Jungen in Institutionen der schulischen und außerschulischen Bildung (S. 72-79)
Manfred Kappeler nimmt eine Studie zur Hitler-Jugend, in der Regierungsprogrammatik, der Organisationsalltag und die subjektiven Wahrnehmungen durch Jugendliche zusammengebracht werden, zum Anlass, grundlegende Überlegungen anzustellen, wie Erlebnisse der damaligen Jugend erkundet und für die Frage der Vermittlung von Kenntnissen über diese Organisation an Mädchen und Jungen heute im Kontext schulischer wie außerschulischer Bildung gelöst werden könnten. In seiner Kritik an der methodologischen Vorgehensweise im Band wird deutlich, weshalb im Hinblick auf subjektive Wahrnehmungen, Zeitverarbeitung, die Differenzen zwischen »Erleben«,« Erlebtem« und »Erfahrung« für die heutige Vermittlung wesentlich sind.
Firat Yildirim
Natural concepts reloaded: Philosophische Betrachtungen jenseits aller partikularen Begrenztheit des Naturbegriffs (S. 80-84)
Natur ist »in«, dies aus sehr unterschiedlichen Sichtweisen – angefangen mit Fragen der »Natur « des Menschen bis zum Problem der Konzipierung von »Nachhaltigkeit«. Firat Yildirim zeigt auf, dass und wie eine zeitgemäße Verständigung über Natur und Naturbegriffe sinnvoll, ja für unsere Gesellschaft wie eine kritische Philosophie notwendig ist. Mit dem Band gelingt es, so die Folgerung, fundierte Einblicke in diskursbestimmende Konzepte von Naturphilosophie zu geben – auch wenn all dies ›nur‹ aus einer ›westlichen‹ Sicht geschieht.
Sammelbesprechung
Ulfrid Kleinert
Perspektiven kritischer Kriminologie (S. 85-94)
Vor langen Zeiten galt einmal – nicht nur in der damals entstehenden kritischen Kriminologie – die Devise, dass sich am Umgang mit Sträflingen der Humanisierungsgrad einer Gesellschaft ablesen lasse; »Abolitionismus« war dabei im Übrigen ein wesentliches Stichwort. Ulfrid Kleinert stellt (wieder, vgl. SLR73) wichtige Neuerscheinungen für den Bereich des »Strafvollzugs« mit Bezug auf unterschiedliche Formate vor. Dabei vertritt er die These, dass das, was beim Bundesstrafvollzugs- Gesetzgebungsprozess der frühen siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts angedacht, aber der Zeit weit voraus war, heute realistisch in Angriff genommen werden könne. Hierbei geht es im Besonderen um Fragen, die die Konzeptualisierung und Realisierung von »Resozialisierung« betreffen.
Forschungsbericht
Hartmut Rübner
Lebensgeschichtliche Kontinuitäten von Schuld und Leiderfahrungen – Transgenerationale Traumatisierungen der Nachkommen von NS-Tätern und deren Opfern (S. 95-115)
Ebenfalls grundlegend und großformatig in Gestalt und Gestaltung liest sich der Forschungsbericht von Hartmut Rübner, der eine individuell wie gesellschaftlich relevante Problematik der NS-Geschichte im Hinblick auf transgenerationale Beziehungen, deren Strukturierung wie Ausgestaltungen, rekonstruiert, wenn er das Thema »Traumatisierung« im Kontext lebensgeschichtlicher Kontinuitäten von Schuld und Leiderfahrungen ins Zentrum stellt. Deutlich werden dabei auf der einen Seite Schwierigkeiten einer Forschung, die sich mit psychischen Folgen wie Spätfolgen der mörderischen Politik des nationalsozialistischen Herrschaftsapparats auf unterschiedlichen Seiten befasst und zum anderen die einer Thematik, bei der es um die Problematik der Einteilung in »Täter« und »Opfer « geht. Kritisiert wird von ihm – vor allem angesichts der prosperierenden Psychotraumatologie der sogenannten »Kriegskinder und -enkel « – grundsätzlich, dass gegenwärtig vor dem Hintergrund des Letzteren häufig »wirkliche« Opfer des NS-Regimes mit ihren Belastungen in den Hintergrund gestellt werden.
Essay
Michael J. Thompson
Das Scheitern des Anerkennungsparadigmas in der neueren Kritischen Theorie (S. 116-129)
Die Krise der Kritischen Theorie – wenn man will, seit dem »linguistic turn« von Jürgen Habermas – ist für diejenigen in Sozialphilosophie und Gesellschaftstheorie offensichtlich, die den Positionen der klassischen Frankfurter Schule anhängen. Michael Thompson nimmt die gegenwärtige Situation der Kritischen Theorie, die um das Anerkennungsparadigma von A. Honneth kreist, zum Anlass, diese Position grundsätzlich zu kritisieren und nach der dem klassischen Paradigma korrespondierenden Alternative zu fragen. Für ihn sind Grundlegung wie Reichweite des revisionistischen Anerkennungskonzeptes unzureichend ausgearbeitet, da, wie er detailliert zeigt, mit ihm die notwendigen Konstitutionsfragen von Subjektivität und Gesellschaft nicht gelöst werden können. Wir freuen uns hier auf eine spannende Kontroverse!
Einzelbesprechungen
Ian Kershaw
Höllensturz. Europa 1914 bis 1949 (Detlev Brunner) (S. 130-133)
Andreas Peglau
Rechtsruck im 21. Jahrhundert. Wilhelm Reichs Massenpsychologie des Faschismus als Erklärungsansatz (Tim Armbruster) (S. 133-135)
Behar Heinemann
Romani Rose. Ein Leben für die Menschenrechte (Franz Hamburger) (S. 135-137)
María do Mar Castro Varela/Paul Mecheril
Die Dämonisierung der Anderen. Rassismuskritik der Gegenwart (Carina Fischer) (S. 137-140)
Dieter Thomä
Puer Robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds (Gerald Hartung) (S. 140-142)
Michael Langhanky
Auf der Suche nach einem anderen Wir. Kleine Narrative zu einer kritischen Sozialen Arbeit (Joachim Weber) (S. 142-145)
Ute Karl
Rationalitäten des Übergangs (Carsten Schröder) (S. 145-148)
Autorinnen/Autoren (S. 149)